Zehnkämpfer Abele: Der letzte Tag seiner Karriere wird zum Drama

Arthur Abele reißt seine Augen weit auf. In ihnen spiegelt sich das Entsetzen. Der 36 Jahre alte Zehnkämpfer steht am Start des 110-Meter-Hürden-Laufs und zeigt mit den Händen überrascht und entgeistert auf sich selbst, als wolle er sagen: „Was? Ich? Das kann doch nicht sein.“ Sein sportlicher Alptraum aber ist in diesem Moment wahr geworden.

Es ist der zweite Wettkampftag der Zehnkämpfer , der letzte im Sportlerleben des Arthur Abele. Doch er wird das Ziel seines 110-Meter-Hürdenlaufs nicht erreichen. Nach dem ersten Fehlstart des Schweizers Simon Ehammer fabriziert er - für die Zuschauer nicht erkennbar - den zweiten. Es ist das Aus, die Disqualifikation für den Titelverteidiger.

Vorerst. Denn was wie der bitterste Tag in seiner Karriere aussah, wandelt sich etwa zwei Stunden später in den wohl aufreibendsten Tag mit der emotionalsten Achterbahnfahrt. Er darf seinen Lauf nachholen. Protest erfolgreich, Disqualifikation aufgehoben.

Abele hat viele Höhen und Tiefen in seiner Karriere erlebt, aber dieses Karrierefinale toppt alles. Die Stunde, in der alles auf so unwürdige Art vorbei schien, war die wohl bitterste seiner Karriere. Denn als wäre eine Disqualifikation bei Heim-Europameisterschaften, und dann nicht frustrierend genug, sollte dieser Wettbewerb schließlich sein Abschied sein. Nachdem er verletzungsbedingt seine Olympia-Hoffnungen für Tokio 2021 aufgegeben hatte, war die EM in München sein letztes großes Ziel.

Doch statt sich am Dienstagabend nach dem dem 1500-Meter-Lauf von seinen jahrelangen Mitstreitern und dem Publikum verabschieden zu können, verließ er - erst einmal - am letzten Wettkampftag seiner Laufbahn bereits am frühen Morgen unter Tränen das Münchner Olympiastadion.

„Hochdramatisch. Für Arthur unglaublich traurig“

„Meine Laune ist im Keller“, sagte ARD-Experte Frank Busemann kurz danach. „Eigentlich könnt ihr mich rausbringen. Drama pur, vor allem, weil man es als Zuschauer nicht ganz versteht. Hochdramatisch. Für Arthur unglaublich traurig.“

Die Regeln sind klar: Der erste Fehlstart - in diesem Fall jener des Schweizers - ist ein persönlicher. Wer den folgenden Fehlstart macht, scheidet aus. Daran gibt es nichts zu deuten. Regeln sind Regeln. Dramatisch war es dennoch - vor allem bei Abeles Geschichte.

Hinzu kam, dass es mit bloßem Auge kaum nachvollziehbar war. „In der Slowmotion sieht man, dass der Schweizer viel früher aus dem Block kommt“, sagt auch Busemann. Doch das ist nicht, was in diesem Moment zählt. Wenn auf die Druckmessplatten am Startblock früher als 0,1 Sekunden nach dem Schuss Druck ausgeübt wird, gilt es als Fehlstart.

Von den Zuschauerrängen ertönen laute Buhrufe

An diesem Dienstagmorgen nun standen die Kampfrichter vor einem kleinen Apparat, warteten auf das Ergebnis. Die Sportler harrten neben ihren Startblöcken aus. Dann nahm sich ein Kampfrichter das Mikrofon und sagte, was Abeles vorzeitigen Abschied bedeutete: „Fehlstart Bahn drei.“ Von den Zuschauerrängen ertönten laute Buhrufe. Weil sie es erst einmal nicht nachvollziehen konnten. Und sicher auch, weil sie Abele einen würdigen Abschied wünschten.

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„Da muss etwas ausgelöst worden sein, ein sanfter Druck“, erklärte Busemann. „Aber es hat ihm keinen Vorteil verschafft. Die alte Regel, nach der nicht nur anhand von Zahlen entschieden wird, sondern auch das Auge entscheidet, gilt hier nicht.“

Abele ließ sich die Daten zeigen. Und die waren eindeutig. Dann verließ er unter dem Applaus der Zuschauer den Innenraum. In einer Ecke blieb er stehen, stützte sich auf seine Oberschenkel und weinte. Es war etwa 9.30 Uhr.

Keine zwei Stunden später waren seine Tränen getrocknet, in der Hand hielt er seine Diskusscheibe. Abele war zurück im Stadion, die Disqualifikation wurde zu diesem Zeitpunkt gerade überprüft. Ungeachtet des Ausgangs des Jury-Urteils nahm er am Diskuswerfen teil.

Währenddessen konnte er aufatmen: Der Protest wurde zu seinen Gunsten entschieden. Am Ende zählte doch nicht nur die Reaktionszeit, der Druck auf die Messplatten, sondern auch die Bewegung, die eingeläutet wurde. Die Jury erkannte, dass er eine normale Start- und keine Fehlstartbewegung gemacht hatte. Es ist kompliziert.

Abeles One-Man-Show über die Hürden

Um 11.34 Uhr schließlich, nach seinen drei Versuchen im Diskuswerfen, steht er wieder am Start der 110-Meter-Hürden-Strecke. Dieses Mal ganz alleine. Seine persönliche One-Man-Show. Als Abele nach 14:50 Sekunden den Zielstrich überquert, reißt er seine Arme hoch und lächelt.

Die Zeit ist Nebensache. Auf den Rängen jubeln seine Eltern, Freunde und Trainer. Das Publikum klatscht und schreit. Und Abele? Der genießt den Moment, bedankt sich bei den Zuschauern und sagt ins Stadion-Mikrofon: „Ich bin fix und fertig. Ich bin nervlich total im Arsch.“ Dann muss er schnell weiter zum Stabhochsprung.

Das unschöne Ende einer langen Karriere doch noch abgewendet. 2005 gewann Abele Silber bei den U20-Europameisterschaften, 2013 krönte er sich zum Deutschen Meister, 2015 feierte er Silber bei der Hallen-EM und 2018 in Berlin mit EM-Gold seinen größten Erfolg.

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Dann aber machten ihm Schmerzen im Fußgelenk zu schaffen, sodass er 2019 pausieren musste. Später stoppte eine Schulter-Operation seine Hoffnungen auf einen Olympiastart 2021 in Tokio. Diese Heim-EM war sein letztes großes Ziel. „Es soll das i-Tüpfelchen auf meine Karriere werden“, sagte er. Danach sei auf jeden Fall Schluss.

Kaul, der König, bei Abeles Abschied

Jetzt darf er es zu Ende bringen. Als sich Teamkollege Niklas Kaul (24) am späten Dienstagabend beim abschließenden 1500-Meter-Lauf mit einem extrem starken Rennen noch auf den Goldrang schiebt, rennt Abele dem finalen Zielstrich seiner Karriere entgegen. Kaul, der vor den letzten beiden Disziplinen noch auf dem siebten Rang gelegen hatte, der bei Olympia in Tokio als amtierender Weltmeister verletzt aufgegeben hatte, beerbt nun Abele als Zehnkampf-Europameister. Dass dieser nicht mehr über den 15. und letzten Platz hinauskommt, trübt die Stimmung nicht.

Gefeiert wird im Ziel auch der Routinier - von den Zuschauern und seinen Konkurrenten. Nach den Tränen der Enttäuschung am Morgen fließen nun Tränen der Erleichterung, des Glücks, aber auch des Abschieds bei ihm. Als die anderen Athleten wenig später ein Spalier für ihn bilden, ihm gewissermaßen den Weg ins neue Leben bahnen, brandet noch einmal kräftiger Applaus auf.

„Der Tag ging brutal emotional los“, sagt Abele zum Ende. „Unfassbar die Stimmung hier, genial, es war so schön, es hat so viel Spaß gebracht hier zum Schluss. Es ist das perfekte Ende für mich. Ich will einfach nur danke sagen an meine Teamkollegen.“